Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel ist ein Schlachtfeld, auf dem nur die Stärksten überleben. Preiskämpfe, veränderte Verbrauchergewohnheiten und ein unerbittlicher Wettbewerb prägen den Alltag. Inmitten dieses Sturms befindet sich Tegut, der einst als Bio-Pionier gefeierte Supermarkt aus Fulda, in einer tiefen Krise. Die Ankündigung, dass zahlreiche Tegut Filialen schließen sollen, hat nicht nur Mitarbeiter und treue Kunden aufgeschreckt, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf die immensen Herausforderungen, denen sich traditionelle Supermärkte stellen müssen.
Diese Entwicklung ist mehr als nur eine betriebswirtschaftliche Entscheidung; sie ist ein Seismograph für die tektonischen Verschiebungen in der gesamten Branche. Was als strategische Neuausrichtung kommuniziert wird, ist in Wahrheit ein harter Sanierungsprozess, der die Identität und Zukunft von Tegut fundamental in Frage stellt. Wir tauchen tief in die Gründe für diese drastischen Maßnahmen ein, analysieren die weitreichenden Folgen und wagen einen Ausblick auf die Zukunft des Unternehmens in einem sich wandelnden europäischen Einzelhandelsmarkt.
Inhaltsverzeichnis
Die Wurzeln der Krise: Warum muss Tegut Filialen schließen?
Die Nachricht, dass Dutzende von Tegut Filialen schließen oder verkauft werden sollen, kam für viele überraschend, doch für Brancheninsider zeichnete sich diese Entwicklung schon länger ab. Die Probleme sind vielschichtig und lassen sich nicht auf einen einzigen Faktor reduzieren. Es ist ein Zusammenspiel aus verpassten Chancen, externem Druck und internen strategischen Fehleinschätzungen.
Der Druck durch Discounter und der verlorene Preiskampf
Der deutsche Lebensmittelmarkt ist einzigartig in Europa. Er wird von Discountern wie Aldi und Lidl dominiert, die mit ihrer aggressiven Preispolitik einen enormen Druck auf alle anderen Marktteilnehmer ausüben. Tegut, das sich traditionell im mittleren bis gehobenen Preissegment positioniert hat, gerät hier zunehmend ins Hintertreffen. Während der Bio-Boom der letzten Jahrzehnte Tegut in die Hände spielte, haben die Discounter längst nachgezogen. Bioprodukte sind heute kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Man findet sie in jedem Supermarktregal, oft zu Preisen, mit denen ein spezialisierter Anbieter wie Tegut kaum konkurrieren kann.
Die anhaltende Inflation und die wirtschaftliche Unsicherheit haben das Kaufverhalten der Verbraucher zusätzlich verändert. Viele Kunden achten stärker auf den Preis und greifen vermehrt zu günstigeren Eigenmarken der Discounter. Teguts Fokus auf Qualität und Nachhaltigkeit, einst sein größtes Kapital, wird in Zeiten knapper Budgets für eine wachsende Zahl von Käufern zweitrangig. Diese Verschiebung trifft das Unternehmen ins Mark.
Die Folgen der Corona-Pandemie: Ein trügerischer Boom
Die Jahre der Corona-Pandemie waren für den gesamten Lebensmitteleinzelhandel eine Zeit des Booms. Geschlossene Restaurants und Homeoffice führten zu einem massiven Anstieg der Umsätze in den Supermärkten. Auch Tegut profitierte erheblich von dieser Entwicklung. Wie Patrik Pörtig, Chef der Schweizer Muttergesellschaft Migros Zürich, einräumte, haben diese Zuwächse jedoch „falsche Erwartungen“ geweckt. Man wiegte sich in einer trügerischen Sicherheit und versäumte es möglicherweise, die Zeit für notwendige strukturelle Anpassungen zu nutzen.
Als sich das Leben normalisierte und die Konsumenten wieder außer Haus aßen, kam der jähe Absturz. Die Umsätze brachen ein und die „neue Realität“, wie Pörtig es nannte, traf Tegut mit voller Wucht. Die Kostenstrukturen, die während des Booms vielleicht tragbar schienen, erwiesen sich nun als Belastung. Die Pandemie hat die zugrunde liegenden Probleme nicht gelöst, sondern nur vorübergehend überdeckt.
Strategische Neuausrichtung unter Migros Zürich
Seit der Übernahme durch die Schweizer Genossenschaft Migros Zürich im Jahr 2013 hat Tegut versucht, sich neu zu erfinden. Ein zentraler Pfeiler dieser Strategie war die Expansion, insbesondere mit neuen, kleineren Formaten wie „Tegut… teo“. Diese digitalen, personalfreien Kleinstmärkte sollten neue Kundengruppen erschließen und die Präsenz in urbanen Räumen stärken. Gleichzeitig wurde die Expansion in den Süden Deutschlands, insbesondere in den Großraum München, vorangetrieben.
Doch diese Expansion war kostspielig und nicht immer erfolgreich. Die „teo“-Märkte kämpfen mit Akzeptanzproblemen und regulatorischen Hürden, wie den Auseinandersetzungen um die Sonntagsöffnung in Hessen. Gleichzeitig scheinen viele der traditionellen Supermarkt-Filialen nicht mehr rentabel zu sein. Die nun angekündigten Filialschließungen bei Tegut sind ein direktes Ergebnis dieser Analyse. Die Migros-Führung hat einen harten „Spar- und Sanierungskurs“ ausgerufen, der nicht nur die Schließung unprofitabler Standorte, sondern auch einen signifikanten Stellenabbau in der Zentrale umfasst. Die Überprüfung des gesamten Filialportfolios ist ein Kernstück dieses Prozesses. Es geht darum, sich von Ballast zu befreien und die Ressourcen auf die profitablen Teile des Geschäfts zu konzentrieren.
Tabelle: Die Entwicklung der Tegut-Filialschließungen
Zeitpunkt der Ankündigung | Ursprünglich geplante Schließungen | Aktuell gemeldete Zahl | Betroffene Regionen (Erweiterung) |
---|---|---|---|
Ende 2023 | ca. 35 Filialen (jede zehnte) | ca. 50 Filialen | Ursprünglich südliche Vertriebsgebiete |
Mitte 2024 | ca. 50 Filialen | Bestätigt | Südliche Gebiete und Rhein-Main-Region |
Diese Tabelle verdeutlicht, dass der Umfang der Sanierung größer ist als ursprünglich kommuniziert. Die Schließung von Tegut Filialen betrifft nun nicht mehr nur die neueren Expansionsgebiete, sondern auch das Kernland des Unternehmens.

Die Auswirkungen der Schließungen: Ein Beben für Mitarbeiter und Kunden
Die Entscheidung, eine so große Anzahl von Tegut Filialen zu schließen, ist keine abstrakte Zahl in einer Bilanz. Sie hat konkrete und oft schmerzhafte Konsequenzen für Tausende von Menschen – die Mitarbeiter, die ihren Arbeitsplatz verlieren, und die Kunden, die ihren vertrauten Nahversorger verlieren.
Unsicherheit und Sorge bei der Belegschaft
Für die Mitarbeiter der betroffenen Filialen ist die Nachricht eine Katastrophe. Sie stehen vor einer ungewissen Zukunft. Zwar wird in der Kommunikation des Unternehmens betont, man suche nach Käufern für die Märkte und strebe an, dass die Belegschaft übernommen wird, doch eine Garantie dafür gibt es nicht. Die Verunsicherung ist riesig. Es geht nicht nur um den Verlust des Arbeitsplatzes und des Einkommens, sondern auch um den Bruch mit einem langjährigen Arbeitgeber und dem vertrauten Kollegenkreis.
Besonders in ländlichen Regionen, in denen Tegut oft der einzige Vollsortimenter vor Ort ist, sind die Arbeitsplätze von existenzieller Bedeutung. Ein neuer Job ist dort nicht immer leicht zu finden. Der Sanierungskurs trifft zudem nicht nur die Filialmitarbeiter. Auch in der Unternehmenszentrale in Fulda wurden bereits über 120 Vollzeitstellen abgebaut. Dieser Aderlass an Erfahrung und Know-how kann das Unternehmen langfristig schwächen.
Was bedeutet die Schließung für die Kunden und die Nahversorgung?
Für viele Kunden ist Tegut mehr als nur ein Supermarkt. Es ist ein Ort der Begegnung, ein fester Bestandteil ihres Alltags und für viele der Garant für hochwertige Bio-Lebensmittel. Besonders für ältere oder weniger mobile Menschen ist der Supermarkt um die Ecke unverzichtbar. Wenn diese Tegut Filiale schließt, bedeutet das für sie oft eine erhebliche Einschränkung ihrer Lebensqualität. Sie müssen weitere Wege in Kauf nehmen, sind auf Hilfe angewiesen oder müssen auf andere Anbieter ausweichen, die möglicherweise nicht das gewünschte Sortiment bieten.
Die Schließungen treffen die Nahversorgung empfindlich, insbesondere in kleineren Gemeinden und Stadtteilen. Ein Supermarkt ist ein wichtiger Ankerpunkt, der auch Frequenz für andere lokale Geschäfte schafft. Fällt dieser Anker weg, kann dies eine negative Kettenreaktion auslösen und zur Verödung von Ortskernen beitragen. Die Schließungswelle bei Tegut ist somit auch ein städtebauliches und soziales Problem. Die Kunden verlieren nicht nur eine Einkaufsstätte, sondern ein Stück Heimat und Vertrautheit.
Der Blick nach vorn: Teguts Zukunft zwischen Schrumpfung und Innovation
Die aktuelle Krise zwingt Tegut zu einer radikalen Neuorientierung. Das Unternehmen steht am Scheideweg. Der Erfolg der Sanierung wird davon abhängen, ob es gelingt, ein zukunftsfähiges Geschäftsmodell zu entwickeln, das sich im hart umkämpften Markt behaupten kann. Die Strategie scheint auf zwei Säulen zu ruhen: einerseits die Konsolidierung des Filialnetzes und andererseits die Hoffnung auf innovative Konzepte.
Fokus auf Kernmärkte und rentable Standorte
Die Schließung unrentabler Tegut Filialen ist ein schmerzhafter, aber aus betriebswirtschaftlicher Sicht nachvollziehbarer Schritt. Das Unternehmen kann es sich nicht länger leisten, Standorte mitzuschleppen, die Verluste schreiben. Die Konzentration auf die Kernmärkte in Hessen, Thüringen und Nordbayern sowie auf nachweislich profitable Filialen in den Expansionsgebieten ist strategisch sinnvoll. Es geht darum, wieder eine solide wirtschaftliche Basis zu schaffen, von der aus neues Wachstum möglich ist.
Dieser Prozess birgt jedoch Risiken. Eine zu starke Schrumpfung kann die Markenwahrnehmung und die Einkaufsmacht des Unternehmens schwächen. Tegut muss die Balance finden zwischen notwendiger Konsolidierung und dem Erhalt einer kritischen Masse, um als relevanter Player am Markt wahrgenommen zu werden.
Die Hoffnungsträger: „teo“ und die digitale Transformation
Die große Hoffnung für die Zukunft von Tegut liegt auf den innovativen Formaten, allen voran dem digitalen Kleinstmarkt „teo. Das Konzept ist bestechend: Auf kleiner Fläche, 24/7 geöffnet und ohne Personal, bietet „teo“ ein Basissortiment für den schnellen Einkauf zwischendurch. Diese Märkte sollen dort entstehen, wo sich ein großer Supermarkt nicht rechnet – in Wohngebieten, an Verkehrsknotenpunkten oder auf Firmengeländen.
Das Potenzial ist unbestreitbar. Wenn es Tegut gelingt, die rechtlichen Hürden (Stichwort Sonntagsöffnung) zu überwinden und die Akzeptanz bei den Kunden zu steigern, könnte „teo“ zu einem wichtigen zweiten Standbein werden. Es ist eine Antwort auf den Wunsch nach maximaler Flexibilität und Convenience.
Allerdings ist der Weg steinig. Die Technologie muss zuverlässig funktionieren, das Sortiment muss die Kunden überzeugen und die Vandalismus-Gefahr muss eingedämmt werden. teo“ ist derzeit noch eine Wette auf die Zukunft. Es bleibt abzuwarten, ob dieses Konzept die in es gesetzten hohen Erwartungen erfüllen und die Verluste aus dem traditionellen Geschäft kompensieren kann.
Die Bedeutung der Marke und des Bio-Sortiments
Trotz aller Krisen darf Tegut sein größtes Pfund nicht aus der Hand geben: die starke Marke und die hohe Kompetenz im Bio-Bereich. Seit Jahrzehnten steht der Name Tegut für Qualität, Nachhaltigkeit und ein besonderes Einkaufserlebnis. Dieses Vertrauen ist ein wertvolles Kapital. Anstatt zu versuchen, die Discounter im Preis zu unterbieten – ein Kampf, den Tegut nur verlieren kann –, sollte das Unternehmen sein Profil als Qualitätsanbieter schärfen.
Das bedeutet, sich noch klarer auf hochwertige Bioprodukte, regionale Lebensmittel und eine exzellente Beratung zu konzentrieren. Tegut muss seinen Kunden einen echten Mehrwert bieten, der über den reinen Preis hinausgeht. Das Einkaufserlebnis, die Atmosphäre in den Filialen und die Qualität des Sortiments müssen so überzeugend sein, dass Kunden bereit sind, dafür einen angemessenen Preis zu zahlen. Die Zukunft von Tegut liegt nicht in der Masse, sondern in der Nische – einer großen, anspruchsvollen Nische von qualitätsbewussten Verbrauchern.
Fazit: Ein Weckruf für den gesamten Einzelhandel
Die Nachricht, dass so viele Tegut Filialen schließen, ist mehr als nur eine schlechte Nachricht für ein einzelnes Unternehmen. Sie ist ein Symptom für die tiefgreifenden Umwälzungen im europäischen Lebensmitteleinzelhandel. Der Fall Tegut zeigt exemplarisch, wie schwierig es für traditionelle Supermärkte geworden ist, sich zwischen den dominanten Discountern auf der einen und dem wachsenden Online-Handel auf der anderen Seite zu behaupten.
Die Zukunft von Tegut ist ungewiss. Der eingeleitete Sanierungskurs ist hart und risikoreich. Ob die Konzentration auf rentable Filialen und die Hoffnung auf innovative Konzepte wie „teo“ ausreichen werden, um das Ruder herumzureißen, wird sich in den kommenden Jahren zeigen müssen. Entscheidend wird sein, ob es dem Unternehmen gelingt, seine einzigartige Identität als Bio-Pionier und Qualitätsanbieter zu bewahren und für die Kunden wieder erlebbar zu machen.
Für die Branche ist die Entwicklung bei Tegut ein unüberhörbarer Weckruf. Er zeigt, dass Größe allein kein Garant für Erfolg ist und dass Geschäftsmodelle, die gestern noch funktioniert haben, morgen schon veraltet sein können. Flexibilität, Innovationskraft und eine klare Positionierung sind im modernen Einzelhandel überlebenswichtig. Die Krise bei Tegut ist eine bittere Lektion, aus der nicht nur das Unternehmen selbst, sondern die gesamte Branche lernen muss. Die Zeit der bequemen Gewissheiten ist endgültig vorbei.
Häufig gestellte Fragen (FAQs)
1. Warum schließt Tegut so viele Filialen?
Tegut schließt Filialen im Rahmen eines umfassenden Sanierungsprogramms, das von der Muttergesellschaft Migros Zürich initiiert wurde. Die Hauptgründe sind die mangelnde Rentabilität vieler Standorte, der hohe Konkurrenzdruck durch Discounter, veränderte Kaufgewohnheiten nach der Corona-Pandemie und die Notwendigkeit, sich auf profitablere Geschäftsbereiche und innovative Konzepte wie „teo“ zu konzentrieren.
2. Welche Tegut-Filialen sind von der Schließung betroffen?
Das Unternehmen hat keine offizielle Liste der betroffenen Filialen veröffentlicht. Berichten zufolge sind zunächst Märkte in den südlichen Vertriebsgebieten (z.B. Bayern) betroffen, aber mittlerweile auch Standorte in der Rhein-Main-Region. Insgesamt sollen rund 50 Märkte verkauft oder geschlossen werden.
3. Was passiert mit den Mitarbeitern der geschlossenen Filialen?
Tegut hat erklärt, dass man für die betroffenen Filialen Käufer sucht, die idealerweise auch die Mitarbeiter übernehmen. Es gibt jedoch keine Garantie für eine Weiterbeschäftigung. Zudem findet in der Unternehmenszentrale in Fulda ein Stellenabbau statt.
4. Ist Tegut insolvent?
Nein, Tegut ist nicht insolvent. Die Schließungen sind Teil eines strategischen Sanierungsprozesses, um die langfristige Wirtschaftlichkeit des Unternehmens zu sichern. Die Muttergesellschaft Migros Zürich hat das Programm aufgelegt, um Tegut wieder profitabel zu machen.
5. Hat Tegut noch eine Zukunft?
Die Zukunft von Tegut hängt vom Erfolg des Sanierungskurses ab. Das Unternehmen plant, sich auf seine Kernmärkte und profitable Filialen zu konzentrieren. Gleichzeitig setzt es große Hoffnungen auf neue, innovative Formate wie die digitalen Kleinstmärkte „Tegut… teo“. Eine Schärfung des Profils als Qualitätsanbieter für Bio- und regionale Produkte wird entscheidend sein.