Die globale Wirtschaft gleicht einem fein abgestimmten Uhrwerk, in dem jedes noch so kleine Rädchen von entscheidender Bedeutung ist. Fällt eines aus, gerät das gesamte System ins Stocken. Genau dieses Szenario entfaltet sich derzeit vor unseren Augen, und im Zentrum des Bebens steht ein Name, der bis vor kurzem nur Brancheninsidern ein Begriff war: Nexperia.
Die drohenden Lieferausfälle bei diesem niederländischen Halbleiterhersteller sind weit mehr als nur eine betriebliche Störung. Sie sind ein Menetekel für die Verletzlichkeit der europäischen Schlüsselindustrien, allen voran der Automobilbranche. Wir stehen möglicherweise nicht nur vor Produktionsdrosselungen, sondern vor einem erzwungenen Stillstand, der die deutsche und europäische Wirtschaft in ihren Grundfesten erschüttern könnte. Dies ist keine Panikmache, sondern die nüchterne Analyse einer sich zuspitzenden Krise, die geopolitische Spannungen, unterbrochene Lieferketten und eine fatale Abhängigkeit von wenigen globalen Akteuren schonungslos offenlegt.
Inhaltsverzeichnis
Was ist Nexperia und warum ist das Unternehmen so entscheidend?
Um das Ausmaß der aktuellen Bedrohung zu verstehen, muss man die Rolle von Nexperia im Ökosystem der Elektronikfertigung begreifen. Nexperia ist kein Hersteller von hochkomplexen Super-Prozessoren, wie man sie aus Computern oder Smartphones kennt. Stattdessen hat sich das Unternehmen auf die Massenproduktion sogenannter Standardhalbleiter spezialisiert. Dabei handelt es sich um essenzielle, aber vergleichsweise einfache Bauteile wie Transistoren, Dioden und Logik-ICs.
Man könnte sie als das „Nervensystem“ moderner Elektronik bezeichnen. Sie steuern grundlegende Funktionen: Wann schaltet sich ein Licht ein? Wie wird ein Signal von einem Sensor zum Steuergerät weitergeleitet? Wie wird die Spannung für verschiedene Komponenten reguliert? Diese Bauteile kosten oft nur wenige Cent pro Stück, doch ohne sie funktioniert buchstäblich nichts.
Nexperia, eine Ausgründung von NXP Semiconductors mit Hauptsitz in den Niederlanden, ist ein globaler Champion in diesem Segment. Das Unternehmen produziert jährlich über 100 Milliarden dieser Bauteile. Ein signifikanter Teil davon – Schätzungen zufolge etwa 40 Prozent des Umsatzes – fließt direkt in die Automobilindustrie. Ein modernes Fahrzeug enthält heute zwischen 1.500 und 3.000 Halbleiter. Ein erheblicher Anteil davon sind genau die Standardchips, die Nexperia liefert.
Die Bedeutung für die Automobilindustrie
Von der Motorsteuerung über das Infotainmentsystem bis hin zu den kleinsten Sensoren für den Airbag oder den Fensterheber – überall sind diese Komponenten verbaut. Die Lieferkette der Automobilhersteller ist extrem auf Effizienz getrimmt (Just-in-Time-Produktion). Fällt ein Lieferant wie Nexperia aus, können selbst bei vollen Lagern mit teuren Hochleistungschips die Bänder stillstehen, weil ein Bauteil im Wert von fünf Cent fehlt. Diese Abhängigkeit macht die Branche extrem anfällig für Störungen.
Bauteil-Kategorie | Funktion im Fahrzeug | Typischer Hersteller |
---|---|---|
Standardhalbleiter | Spannungsregelung, Signalverarbeitung, Steuerung von Aktoren | Nexperia, Infineon, STMicroelectronics |
Mikrocontroller (MCUs) | Steuerung komplexer Systeme (z.B. Motor, Getriebe) | Renesas, NXP, Infineon |
Sensoren | Erfassung von Umgebungsdaten (z.B. Radar, Lidar, Kameras) | Bosch, Continental, Sony |
Leistungshalbleiter | Steuerung von Elektromotoren (besonders in E-Autos) | Infineon, Wolfspeed, onsemi |
Speicherchips | Datenspeicherung für Infotainment und Systemeinstellungen | Samsung, Micron, SK Hynix |
Diese Tabelle verdeutlicht, dass Nexperia eine fundamentale Ebene der Elektronikpyramide bedient. Ohne diese Basis können die komplexeren Systeme gar nicht erst funktionieren.
Der geopolitische Sturm: China, die USA und die Rolle Europas
Die aktuellen Probleme bei Nexperia sind kein Zufall, sondern das direkte Resultat eskalierender geopolitischer Spannungen. Nexperia ist zwar ein niederländisches Unternehmen mit europäischen Wurzeln und Produktionsstätten, unter anderem in Hamburg. Seit 2019 gehört es jedoch vollständig dem chinesischen Technologiekonzern Wingtech Technology. Diese Eigentümerstruktur rückt Nexperia ins Fadenkreuz des Handels- und Technologiekriegs zwischen den USA und China.
Die US-Regierung hat weitreichende Sanktionen verhängt, um Chinas Zugang zu fortschrittlicher Halbleitertechnologie zu beschneiden. Diese Maßnahmen zielen darauf ab, Chinas technologischen und militärischen Aufstieg zu verlangsamen. Die Befürchtung ist, dass westliche Technologie für die Modernisierung des chinesischen Militärs missbraucht werden könnte.
Wie die US-Sanktionen Nexperia treffen
Obwohl Nexperia keine hochmodernen Chips produziert, ist das Unternehmen auf amerikanische Technologie und Software für das Design und die Fertigung seiner Produkte angewiesen. Die US-Sanktionen sind so formuliert, dass sie auch Unternehmen treffen, die US-Technologie verwenden, selbst wenn sie außerhalb der USA ansässig sind. Dies erzeugt eine massive Rechtsunsicherheit. Kann Nexperia weiterhin seine chinesischen Mutterkonzern oder andere chinesische Kunden beliefern, ohne gegen US-Recht zu verstoßen? Kann das Unternehmen selbst noch die notwendige Software und Ausrüstung für seine Fabriken in Europa beziehen?
In einem internen Schreiben, das an die Öffentlichkeit gelangte, hat Nexperia seine Kunden, darunter die größten Automobilzulieferer wie Bosch, Continental und ZF, gewarnt. Das Unternehmen kann aufgrund dieser geopolitischen Unsicherheiten keine Liefergarantien mehr geben. Für eine Industrie, die auf absolute Liefertreue angewiesen ist, ist dies das Worst-Case-Szenario. Die „alarmierende Lage“, von der Branchenverbände sprechen, ist eine direkte Folge dieser Ungewissheit. Niemand kann vorhersagen, wie die USA ihre Sanktionen auslegen und durchsetzen werden und wie China darauf reagieren wird. Europa und seine Industrie sind zum Kollateralschaden in diesem Konflikt geworden.

Produktionsstillstand droht: Die konkreten Auswirkungen auf Europas Automobilhersteller
Die Warnung von Nexperia hat in den Chefetagen von Volkswagen, BMW, Mercedes-Benz und Stellantis alle Alarmglocken schrillen lassen. Die Erinnerungen an die Chipkrise der Jahre 2020 bis 2022 sind noch frisch. Damals führten Engpässe zu monatelangen Produktionsausfällen, milliardenschweren Verlusten und langen Wartezeiten für die Kunden. Die aktuelle Situation hat jedoch das Potenzial, noch schlimmer zu werden.
Während der letzten Krise waren die Engpässe primär nachfragegetrieben – eine Folge der pandemiebedingten Verlagerung der Chip-Nachfrage hin zur Unterhaltungselektronik. Die aktuelle Bedrohung ist angebotsseitig und geopolitisch motiviert. Ein plötzlicher Ausfall eines Schlüssellieferanten wie Nexperia lässt sich nicht kurzfristig kompensieren.
Warum ein Ersatz so schwierig ist
- Spezialisierung und Qualifizierung: Halbleiter für die Automobilindustrie müssen extrem strenge Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen erfüllen. Sie müssen bei Temperaturen von -40°C bis +150°C zuverlässig funktionieren und über die gesamte Lebensdauer eines Fahrzeugs (15 Jahre oder mehr) halten. Ein neuer Lieferant muss seine Produktionsprozesse auf diese Standards ausrichten und seine Produkte in langen und teuren Verfahren qualifizieren lassen. Dieser Prozess kann 18 bis 24 Monate dauern.
- Konzentrierte Märkte: Der Markt für Standardhalbleiter ist stark konsolidiert. Es gibt nur wenige Hersteller weltweit, die die benötigten Mengen in der geforderten Qualität liefern können. Andere Hersteller wie Infineon oder STMicroelectronics laufen bereits an ihrer Kapazitätsgrenze und können die potenziellen Ausfälle von Nexperia nicht ohne Weiteres auffangen.
- Fehlende Lagerbestände: Die Just-in-Time-Philosophie hat dazu geführt, dass kaum Puffer in der Lieferkette existieren. Zulieferer und OEMs halten nur Lagerbestände für wenige Tage oder Wochen. Ein abrupter Lieferstopp würde daher fast unmittelbar zu Produktionsstopps führen.
Die Konsequenzen wären verheerend. Produktionsbänder in Wolfsburg, München, Stuttgart und ganz Europa könnten zum Stillstand kommen. Dies bedroht nicht nur die Umsätze und Gewinne der Hersteller, sondern auch Hunderttausende von Arbeitsplätzen in der gesamten Wertschöpfungskette – von den großen Konzernen bis zu den kleinen und mittelständischen Zulieferern.
Eine Analyse: Europas strategische Fehleinschätzung
Die aktuelle Krise um Nexperia ist kein unglücklicher Zufall, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger strategischer Fehlentscheidungen in Europa. Man hat die Produktion von als „einfach“ oder „wenig wertschöpfend“ erachteten Gütern bereitwillig nach Asien ausgelagert, um Kosten zu senken. Die Konzentration lag auf der Entwicklung von High-End-Technologien und dem Endprodukt – dem Auto. Dabei wurde übersehen, dass die Abhängigkeit von grundlegenden Vorprodukten ein enormes strategisches Risiko darstellt.
Die Übernahme von Nexperia durch einen chinesischen Konzern im Jahr 2019 hätte ein Weckruf sein müssen. Damals wurde der Verkauf ohne größere politische Bedenken durchgewunken. Heute erweist sich genau diese Übernahme als das Einfallstor für geopolitische Konflikte in die europäische Industriestruktur. Die Naivität, wirtschaftliche Verflechtungen könnten politische Differenzen überbrücken, ist einer harten Realität gewichen: Wirtschaft ist zur Waffe im Kampf der Großmächte geworden.
Die Europäische Union hat mit dem „European Chips Act“ zwar reagiert und will mit über 40 Milliarden Euro die Halbleiterproduktion in Europa stärken. Doch diese Initiative kommt spät und ist in ihrer Ausrichtung fragwürdig.
Kritik am European Chips Act
Der Fokus des Chips Act liegt primär auf der Ansiedlung von Fabriken für modernste Halbleiter unter 5 Nanometern. Intel baut in Magdeburg, TSMC in Dresden. Das ist grundsätzlich wichtig, um technologisch nicht den Anschluss zu verlieren. Doch diese Fabs lösen das aktuelle Problem nicht. Sie werden die von Nexperia produzierten Standardchips nicht herstellen.
Die Förderung vernachlässigt den riesigen Markt der sogenannten „Mature Nodes“ oder „Legacy Chips“ – also genau die Halbleiter, die für die Automobil-, Industrie- und Medizintechnik essenziell sind. Es ist ein strategischer Fehler zu glauben, nur die modernsten Chips seien „strategisch relevant. Ein Auto bleibt stehen, egal ob der 3-Nanometer-Prozessor für das autonome Fahren fehlt oder die 5-Cent-Diode für die Bremsleuchte.
Europa muss dringend eine umfassendere Strategie entwickeln, die die gesamte Wertschöpfungskette im Blick hat – von den einfachen Standardbauteilen bis zu den komplexen System-on-a-Chip-Lösungen. Dies erfordert Investitionen in bestehende europäische Hersteller und den Aufbau neuer Kapazitäten im Bereich der Standardhalbleiter.
Ausblick und Prognose: Eine neue Ära der Industriepolitik
Die Nexperia-Krise markiert einen Wendepunkt. Sie wird die Art und Weise, wie wir über Globalisierung, Lieferketten und Industriepolitik denken, nachhaltig verändern. Die Ära der rein kostenoptimierten, global verteilten Produktion geht zu Ende. Eine neue Ära des „strategischen Sourcing“ und der „Resilienz“ beginnt.
Meine Prognose ist, dass die europäischen Automobilhersteller und ihre Zulieferer gezwungen sein werden, ihre Lieferketten radikal umzubauen.
- Regionalisierung (Nearshoring): Die Abhängigkeit von asiatischen Lieferanten wird systematisch reduziert werden. Die Produktion und der Einkauf von kritischen Komponenten wie Halbleitern werden wieder stärker in Europa oder in politisch stabilen Nachbarregionen stattfinden. Dies wird die Kosten erhöhen, aber die Versorgungssicherheit steigern.
- Multi-Sourcing: Die Abhängigkeit von einem einzigen Lieferanten („Single Sourcing“) für kritische Bauteile wird der Vergangenheit angehören. OEMs werden aktiv zweite und dritte Lieferantenqualifizieren, selbst wenn dies höhere Komplexität und Kosten bedeutet.
- Strategische Partnerschaften: Automobilhersteller werden direkte Partnerschaften mit Halbleiterherstellern eingehen, um sich Kapazitäten zu sichern und gemeinsam die Chips der nächsten Generation zu entwickeln. Kooperationen wie die von VW mit STMicroelectronics sind erst der Anfang.
- Erhöhung der Lagerbestände: Die Just-in-Time-Doktrin wird aufgeweicht. Für kritische Komponenten werden wieder strategische Lagerbestände aufgebaut, um kurzfristige Lieferausfälle überbrücken zu können.
Diese Transformation wird teuer und langwierig. Die Preise für Fahrzeuge könnten weiter steigen, da die Effizienzvorteile der alten Globalisierungs-Ära schwinden. Doch die Alternative – die wiederkehrende Gefahr eines Produktionsstillstands durch geopolitische Willkür – ist für eine Industrienation wie Deutschland nicht tragbar.
Die Krise um Nexperia ist somit mehr als nur eine schlechte Nachricht für die Automobilindustrie. Sie ist der schmerzhafte, aber notwendige Weckruf für Europa, seine strategische Souveränität ernst zu nehmen und seine industriellen Grundlagen für das 21. Jahrhundert neu zu definieren. Es geht nicht darum, die Globalisierung zurückzudrehen, sondern sie intelligenter und widerstandsfähiger zu gestalten. Gelingt das nicht, wird die aktuelle Krise nur der Vorbote für noch größere Verwerfungen sein.
Häufig gestellte Fragen (FAQs)
1. Was genau stellt Nexperia her?
Nexperia ist ein führender Hersteller von Standardhalbleitern. Dazu gehören grundlegende elektronische Bauteile wie Dioden, Transistoren, MOSFETs und einfache Logik-Chips. Diese Komponenten sind in fast allen elektronischen Geräten unverzichtbar, insbesondere in der Automobilindustrie, der Industrieelektronik und der Unterhaltungselektronik.
2. Warum ist ein Lieferstopp von Nexperia so kritisch für die Autoindustrie
Ein modernes Auto enthält Tausende von Halbleitern. Viele davon sind die von Nexperia hergestellten Standardchips. Fehlt auch nur ein einziges dieser Cent-Bauteile, kann ein ganzes Modul (z. B. ein Steuergerät) nicht fertiggestellt werden. Aufgrund der Just-in-Time-Produktion ohne große Lagerbestände führt ein Lieferstopp bei einem so wichtigen Lieferanten fast sofort zu einem Stillstand der Produktionsbänder.
3. Gehört Nexperia nicht zu den Niederlanden? Warum sind US-Sanktionen ein Problem?
Obwohl Nexperia seinen Hauptsitz in den Niederlanden hat und dort sowie in Deutschland (Hamburg) und Großbritannien produziert, gehört das Unternehmen seit 2019 vollständig dem chinesischen Konzern Wingtech Technology. Da Nexperia für die Entwicklung und Herstellung seiner Chips auch auf US-amerikanische Software und Technologie angewiesen ist, fällt es potenziell unter die US-Sanktionen gegen China. Dies schafft eine enorme Rechtsunsicherheit und gefährdet die Lieferfähigkeit.
4. Können andere Chiphersteller die Lücke nicht einfach füllen?
Nein, das ist kurzfristig nicht möglich. Andere große Hersteller wie Infineon oder STMicroelectronics produzieren bereits an ihrer Kapazitätsgrenze. Zudem müssen Halbleiter für den Einsatz im Automobil extrem strenge Qualitäts- und Sicherheitsstandards erfüllen. Die Qualifizierung eines neuen Lieferanten für ein bestimmtes Bauteil ist ein langwieriger Prozess, der 18 bis 24 Monate dauern kann.
5. Was tut die Politik, um solche Krisen in Zukunft zu verhindern?
Die Europäische Union hat den „European Chips Act“ ins Leben gerufen, ein Förderprogramm mit über 40 Milliarden Euro. Ziel ist es, die Halbleiterproduktion in Europa zu stärken und die Abhängigkeit von Asien zu verringern. Kritiker bemängeln jedoch, dass der Fokus zu stark auf hochmodernen Chips liegt und die Produktion von fundamental wichtigen Standardhalbleitern, wie sie Nexperia herstellt, vernachlässigt wird.