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Samstag, September 13, 2025
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TikTok verbietet politische Werbung: Ein Schlag gegen die Demokratie oder notwendiger Schutz?

Ein kritischer Blick auf das Verbot politischer Werbung bei TikTok, die neuen EU-Regeln und die Folgen für NGOs, Verbände und die digitale Öffentlichkeit

Einleitung: Ein historischer Einschnitt in der digitalen politischen Kommunikation

Die jüngste Ankündigung von TikTok, bezahlte politische Werbung auf seiner Plattform zu verbieten, ist nicht isoliert zu betrachten. Sie ist vielmehr Teil einer tektonischen Verschiebung im digitalen Ökosystem der politischen Kommunikation in Europa. Giganten wie Meta (Facebook, Instagram) und Google haben ähnliche Schritte angekündigt: Ab Oktober 2025 werden sie in der EU keine politischen Anzeigen mehr schalten. Begründet wird dies mit den neuen, komplexen EU-Regeln für politische Werbung (Transparency and Targeting of Political Advertising, TTPA), die als unpraktikabel und zu vage kritisiert werden . Dieser Rückzug der großen Plattformen markiert einen historischen Wendepunkt. Er bedeutet nicht weniger als das vorläufige Aus für einen gesamten Kommunikationskanal für demokratische Akteure – in einem Superwahljahr in Deutschland, in dem in vier Bundesländern gewählt wird. Doch ist dieses Verbot ein Sieg für den Verbraucherschutz und gegen Desinformation, oder handelt es sich um eine gefährliche Kapitulation vor der Regulierung, die die demokratische Debatte nachhaltig schädigt? Diese Analyse beleuchtet die Hintergründe, die Akteure, die kritischen Perspektiven und die alternativen Wege, die Organisationen nun gehen müssen.

1 Die neue EU-Verordnung TTPA: Transparenz um jeden Preis?

1.1 Was die TTPA vorschreibt

Der Kern der Verordnung TTPA (Transparency and Targeting of Political Advertising), die am 13. März 2024 verabschiedet wurde und ab dem 10. Oktober 2025 uneingeschränkt gilt, zielt auf zwei Hauptanliegen ab: maximale Transparenz und die Eindämmung von Manipulation sowie ausländischer Einflussnahme . Konkret bedeutet das:

  • Klare Kennzeichnungspflicht: Jede politisch motivierte Anzeige muss klar als solche erkennbar sein.
  • Umfangreiche Offenlegung: Sie muss Informationen enthalten, wer der Sponsor ist, wie viel bezahlt wurde, auf welchen Wahl- oder Gesetzgebungsprozess sie sich bezieht und ob Targeting-Techniken verwendet wurden.
  • Beschränkung des Microtargetings: Die gezielte Ausspielung von Werbung basierend on sensiblen personenbezogenen Daten (ethnische Herkunft, politische Meinungen, etc.) ist gänzlich verboten. Targeting ist nur noch erlaubt, wenn Nutzer ausdrücklich zugestimmt haben und die Daten direkt von ihnen erhoben wurden.
  • Öffentliches Archiv: Politische Online-Anzeigen müssen in einem öffentlichen EU-Online-Archiv gespeichert werden.
  • Ausländische Einmischung: In den drei Monaten vor Wahlen oder Referenden dürfen Akteure außerhalb der EU keine politische Werbung mehr sponsern .

Erstmals gibt es damit eine gesetzliche Definition politischer Werbung, die sehr weit gefasst ist und Themen wie Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, Klima- und Umweltschutz, Menschenrechte und Lieferketten umfasst – unabhängig davon, ob für Spenden, Unterschriften oder neue Follower geworben wird .

1.2 Warum die Plattformen reagieren wie sie reagieren

Die Reaktion der großen Tech-Konzerne ist aus ihrer Sicht nachvollziehbar: Statt ihre milliardenschweren Werbesysteme tiefgreifend umzubauen, um diesen extrem detaillierten Transparenzanforderungen gerecht zu werden, ziehen sie sich einfach zurück. Meta nannte die Vorgaben „unworkable requirements“ – unpraktikable Anforderungen, die rechtliche Unsicherheiten für Werbetreibende und Plattformen schüren . Google verwies bereits im November 2024 auf die zu breite Definition politischer Werbung und mangelnde Klarheit bei der Umsetzung .

Ihre Kalkulation ist simpel: Das Geschäft mit politischer Werbung macht nur einen kleinen Teil ihres Gesamtumsatzes aus, das Risiko von horrenden Strafen bei Verstößen gegen die TTPA und den benachbarten Digital Services Act (DSA) ist dagegen enorm. TikTok, das politische Werbung schon länger nicht erlaubt, begründet sein Verbot damit, dass solche Anzeigen nicht zum „positiven, erfrischenden Umfeld“ der Plattform passen würden . Diese Haltung wird nun durch die TTPA zusätzlich zementiert.

2 TikToks Rolle: Vorreiter oder Mitläufer?

2.1 TikToks lange Ablehnung politischer Werbung

Anders als Meta und Google ist TikTok kein Neuling auf diesem Feld. Die Plattform hat bezahlte politische Werbung schon immer verboten. Blake Chandlee, Vizepräsident von TikTok Global Business Solutions, erklärte, die Natur solcher Werbung passe nicht zum Plattform-Erlebnis, das auf Kreativität, Unterhaltung und einem „erfreulichen Erlebnis“ basiere . TikTok positioniert sich bewusst als apolitischer Unterhaltungskanal, was immer wieder zu Vorwürfen der Zensur führte, etwa als Videos zu Protesten in Hongkong kaum auffindbar waren .

2.2 Gleichzeitige rechtliche Probleme mit Werbetransparenz

Ironischerweise steht TikTok gerade im Bereich Werbetransparenz selbst massiv unter Druck der EU-Kommission. Diese wirft der Plattform vor, gegen den Digital Services Act (DSA) zu verstoßen, weil sie kein ausreichend detailliertes Werberegister bereitstelle .

Die EU-Kommission kritisiert:

  • Fehlende Angaben dazu, welche Nutzer mit personalisierter Werbung angesprochen werden.
  • Unklare Informationen darüber, wer Werbeanzeigen finanziert.
  • Eine mangelhafte Suchfunktion im Anzeigenarchiv, die dessen Nutzungsmöglichkeiten für die Öffentlichkeit, Forschende und die Zivilgesellschaft erheblich einschränkt .

EU-Digitalkommissarin Henna Virkkunen betonte: „Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht darauf zu wissen, wer hinter den Botschaften steckt, die sie sehen“ – besonders im Kontext von Wahlen . Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, drohen TikTok Strafen von bis zu sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes, was einer Milliardenstrafe gleichkäme . Vor diesem Hintergrund erscheint TikToks kompromisslose Haltung zum Verbot politischer Werbung auch als strategische Entscheidung, um sich nicht weiteren regulatorischen Risiken auszusetzen.

3 Kritische Analyse: Überregulierung oder längst überfällige Maßnahme?

Die Bewertung der Entwicklung fällt gespalten aus und hängt stark vom Standpunkt des Betrachters ab.

3.1 Argumente für die strikten Regeln

Befürworter der TTPA und der Plattform-Reaktionen argumentieren, dass:

  • Manipulation und Desinformation eingedämmt werden: Die Maßnahmen erschweren ausländische Einflussnahme, wie sie beispielsweise bei der rumänischen Präsidentschaftswahl 2024 vermutet wurde, erheblich .
  • Transparenz gesteigert wird: Wähler haben ein legitimes Interesse daran, die Hintermänner einer politischen Botschaft zu kennen. Die TTPA schafft hierfür die notwendigen Werkzeuge.
  • Übermächtiges Microtargeting gebändigt wird: Die Beschränkung der datengetriebenen Manipulation von Wählern ist ein essenzieller Schritt zum Schutz der demokratischen Willensbildung.

3.2 Argumente gegen eine Überregulierung

Auf der anderen Seite gibt es gewichtige kritische Stimmen:

  • Kapitulation vor der Regulierung: Die Plattformen lösen das Problem der Intransparenz nicht, sondern umgehen es einfach, indem sie den Stecker ziehen. Dies ist bequem für sie, aber fatal für die demokratische Debatte.
  • Bestrafung der falschen Akteure: Während demokratische Akteure wie NGOs, Verbände und politische Parteien ihren wichtigsten Kanal zur zielgruppengenauen Ansprache verlieren, können Desinformation und extremistischer Propaganda weiterhin organisch – also unbezahlt – ihre Reichweite in den gleichen Feeds erzielen . Dies schafft ein gefährliches Ungleichgewicht.
  • Vage Definitionen: Die extrem breite Definition dessen, was „politisch“ ist, macht es für Plattformen nahezu unmöglich, sicher zu entscheiden, was nun unter die Regeln fällt und was nicht. Dies führt zu einer restriktiven Überinterpretation („Overblocking“), die legitime zivilgesellschaftliche Debatten erstickt.
  • Einschränkung der demokratischen Öffentlichkeit: Die organische Reichweite wird von Algorithmen kontrolliert. Bezahlte Anzeigen waren ein Werkzeug, um diese algorithmische Gatekeeper-Funktion zu umgehen und gezielt Informationen an Bürger auszuspielen. Dieser Kanal ist nun versperrt .

Organisationen wie die Civil Liberties Union for Europe (Libertie) kritisieren daher eine mögliche Überregulierung durch nicht genau genug definierte Themen .

TikTok verbietet politische Werbung

4 Konkrete Folgen für NGOs, Verbände und die Zivilgesellschaft

Für die betroffenen Organisationen stellt die neue Lage eine enorme Herausforderung dar. Viele NGOs und Verbände sind in ihrer Arbeit auf kosteneffiziente Werbung angewiesen, um auf Missstände aufmerksam zu machen, Unterschriften für Petitionen zu sammeln, Spenden zu akquirieren oder für ihre Anliegen in Themen wie Klimaschutz, Menscherechten oder sozialer Gerechtigkeit zu werben . Gerade für zivilgesellschaftliche Akteure mit knappen Ressourcen war die zielgenaue Ansprache über Social-Media-Anzeigen ein unverzichtbares Tool.

Table 1: Vergleich der Plattform-Richtlinien für politische Werbung (Stand: September 2025)

PlattformErlaubnis politischer Werbung?BegründungBetroffene Akteure
TikTok Schon länger verboten„Stört positives Nutzererlebnis“, „Unterhaltungsfokus“Alle Werbetreibenden
Meta (FB, IG) Ab Okt. 2025 verboten„Unpraktikable“ Vorgaben der TTPA, rechtliche UnsicherheitAlle Werbetreibenden
GoogleAb Okt. 2025 verbotenZu breite Definition, mangelnde KlarheitAlle Werbetreibenden
LinkedInBereits seit längerem deaktiviertWeniger scharfe Ablehnung, aber ähnliche GründeAlle Werbetreibenden
X (Twitter)Erlaubt (unter TTPA-Auflagen)Unterliegt jedoch EU-Strafandrohungen bei IntransparenzNur wer TTPA einhält

5 Strategien für die Zeit nach dem Werbeverbot: Wie Organisationen jetzt Reichweite erzielen können

Da bezahlte Werbung weggebrochen ist, rückt die organische Reichweite noch stärker in den Mittelpunkt. Der Erfolg hängt nun von Strategie, Kreativität und Community-Arbeit ab. Hier sind drei zentrale Ansätze:

5.1 Hochwertigen Video-Content produzieren und Trends aufgreifen

Algorithmen lieben Videos. Kurze, ansprechende Clips erzielen oft höhere organische Reichweiten als Text oder Bilder. Organisationen sollten verstärkt auf Bewegtbild setzen – von knackigen Erklärvideos bis zu persönlichen Botschaften. Ebenso wichtig ist ein aggressives Trend-Monitoring: Welche politischen Inhalte gehen gerade viral? Welche Themen, Sounds und Formate dominieren die Debatte? Es reicht nicht, nur den eigenen Feed zu beobachten. Systematisches Beobachten relevanter Accounts (andere NGOs, Influencer, Medien) und der Einsatz von Social-Listening-Tools ist essentiell. Wer schnell auf Trends reagiert und sie clever mit der eigenen Botschaft verbindet, wird mit mehr Sichtbarkeit belohnt .

5.2 Auf „Collabs“ und Kooperationen setzen

Auf Instagram und Facebook gibt es die Funktion Collabs, mit der ein Beitrag von zwei Accounts gemeinsam veröffentlicht werden kann. Solche Kollaboration-Posts führen zu kumulierter organischer Reichweite: Der Beitrag erscheint simultan im Feed beider Accounts und erreicht so die Follower-Kreise des Partners. Für NGOs und Verbände bietet es sich an, alliierte Organisationen für solche gemeinsamen Veröffentlichungen zu gewinnen . Dies vergrößert nicht nur die Reichweite, sondern stärkt auch die Glaubwürdigkeit durch Bündnisse.

5.3 Influencer-Partnerschaften intensivieren

Auch wenn bezahlte politische Anzeigen verboten sind, bleibt die Zusammenarbeit mit Influencern eine extrem potente Strategie. Influencer können Botschaften authentisch und glaubwürdig in ihre Communities tragen. Die Kosten hierfür variieren stark:

Table 2: Geschätzte Kosten für TikTok-Influencer-Partnerschaften (2025)

Influencer-KategorieFollower-ZahlKosten pro Post (ca.)Vorteile
Nano-Influencerunter 10.000200–500 $Hohe Engagement-Rate, sehr authentisch
Micro-Influencer10.000–100.000500–2.000 $Gute Reichweite, hohe Vertrauenswürdigkeit
Mid-Tier-Influencer100.000–500.0002.000–5.000 $Breite Reichweite, gute Expertise
Macro-Influencer500.000–1 Mio.5.000–10.000 $Sehr große Reichweite, hohe Sichtbarkeit
Mega-Influencerüber 1 Mio.10.000 $+Massenreichweite, Star-Power
*Quelle: In Anlehnung an *

Wichtig ist, dass solche Partnerschaften transparent und authentisch gestaltet werden. Der Aufbau langfristiger Beziehungen zu Creatorn, die die Werte der Organisation teilen, ist erfolgsversprechender als einmalige, transactional Bezahlungen.

Ausblick und Fazit: Wohin steuert die digitale politische Werbung?

Die Entscheidung von TikTok, Meta und Google, politische Werbung in der EU einzustellen, ist ein Paukenschlag. Sie ist Ausdruck eines Machtkampfes zwischen regulatorischem Willen der EU und der Geschäftslogik globaler Tech-Konzerne. Kurzfristig werden vor allem diejenigen leiden, die auf diesen Kanal angewiesen waren: die Zivilgesellschaft, kleinere NGOs und demokratische Verbände.

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