Herbert Diess ist eine der prägendsten und zugleich umstrittensten Figuren in der jüngeren Geschichte der Volkswagen AG. Als Architekt der radikalen Elektro-Transformation hat er den größten Automobilhersteller der Welt auf einen neuen Kurs gezwungen. Seine Amtszeit von 2018 bis 2022 war geprägt von visionären Strategien, internen Machtkämpfen und dem unermüdlichen Kampf, einen Industriegiganten für das digitale Zeitalter fit zu machen. Dieser Artikel beleuchtet die Ära Diess bei VW – seinen Aufstieg, seine ambitionierten Ziele, die gewaltigen Hürden und sein bleibendes Vermächtnis.
Inhaltsverzeichnis
Wer ist Herbert Diess? Ein Blick auf seine Karriere vor Volkswagen
Bevor Herbert Diess das Ruder in Wolfsburg übernahm, hatte er sich bereits einen Namen als fähiger und kostenbewusster Manager in der Automobilindustrie gemacht. Seine Karriere ist ein Musterbeispiel für strategisches Denken und operative Exzellenz.
Frühe Jahre und Ausbildung
Geboren am 24. Oktober 1958 in München, legte Diess früh den Grundstein für seine technische Expertise. Er studierte zunächst Fahrzeugtechnik an der Fachhochschule München und anschließend Maschinenbau an der Technischen Universität München, wo er 1987 im Bereich der Montageautomatisierung promovierte. Diese technische Tiefe sollte seine gesamte Karriere prägen und ihm das nötige Rüstzeug für die komplexen Herausforderungen der Automobilproduktion geben.
Die prägenden Jahre bei BMW
1996 trat Diess in die Dienste von BMW. In fast zwei Jahrzehnten durchlief er verschiedene Führungspositionen und hinterließ deutliche Spuren. Er war unter anderem für die BMW-Werke in Birmingham und Oxford verantwortlich und leitete später die Motorradsparte.
Seine wichtigste Rolle bei BMW war jedoch die des Vorstands für Entwicklung. In dieser Funktion war er maßgeblich für die Entwicklung der wegweisenden „i“-Modelle – des BMW i3 und des BMW i8 – verantwortlich. Diese Projekte zeigten früh seine Bereitschaft, traditionelle Pfade zu verlassen und sich voll und ganz auf die Elektromobilität zu konzentrieren. Sein Ruf als „Kostenkiller“ und effizienter Prozessoptimierer festigte sich in dieser Zeit. Trotz seiner Erfolge verließ er BMW 2015, um eine neue Herausforderung bei Volkswagen anzunehmen.
Der Wechsel zu Volkswagen: Mitten im Sturm des Dieselskandals
Herbert Diess trat seinen Posten als Markenvorstand von Volkswagen Pkw am 1. Juli 2015 an – nur wenige Wochen, bevor der Dieselskandal die Automobilwelt erschütterte. Anstatt in ruhigen Gewässern zu starten, fand er sich im Zentrum der größten Krise in der Geschichte des Konzerns wieder.
Krisenmanagement und erste Schritte
Der Dieselskandal, bei dem Volkswagen Abgaswerte bei Millionen von Dieselfahrzeugen manipuliert hatte, stürzte das Unternehmen in eine tiefe Vertrauens- und Finanzkrise. Die Aufarbeitung kostete den Konzern über 30 Milliarden Dollar und beschädigte seinen Ruf nachhaltig.
Diess, als relativer Außenseiter ohne Verstrickung in die Vorkommnisse, wurde schnell zu einer Schlüsselfigur im Krisenmanagement. Er musste nicht nur das operative Geschäft stabilisieren, sondern auch das Vertrauen von Kunden, Mitarbeitern und Investoren zurückgewinnen. Seine Aufgabe war es, die Marke Volkswagen neu auszurichten und aus der Defensive in die Offensive zu bringen.
Aufstieg zum Konzernchef
Im April 2018 wurde Herbert Diess zum Vorstandsvorsitzenden des gesamten Volkswagen-Konzerns ernannt. Er trat an, um den Tanker VW radikal umzubauen. Seine Diagnose war klar: Die Zukunft gehört der Elektromobilität und der Software. Volkswagen musste sich von einem reinen Hardware-Hersteller zu einem technologiegetriebenen Mobilitätsanbieter wandeln, um gegen neue Wettbewerber wie Tesla bestehen zu können.
Die Transformation von Volkswagen: Die Elektro-Revolution
Diess‘ Vision für Volkswagen war nichts weniger als revolutionär. Er wollte den Konzern zum weltweit führenden Anbieter von Elektrofahrzeugen machen und Tesla nicht nur einholen, sondern überholen. Seine Strategie basierte auf zwei zentralen Säulen: einer massiven Investition in Elektromobilität und dem Aufbau eigener Softwarekompetenz.
Die „Strategy 2025“ und die ID.-Familie
Unter dem Schlagwort „Strategy 2025“ und später „New Auto“ formulierte Diess einen klaren Plan. Das Herzstück war die Entwicklung des Modularen E-Antriebs-Baukastens (MEB). Diese Plattform sollte als technisches Rückgrat für eine ganze Familie von Elektrofahrzeugen dienen – die ID.-Reihe.
- ID.3: Das erste rein elektrische Modell auf MEB-Basis, positioniert als der „elektrische Golf“, sollte den Massenmarkt erobern.
- ID.4: Ein Elektro-SUV für den Weltmarkt, das eine entscheidende Rolle in den USA und China spielen sollte.
- ID. Buzz: Die emotionale Wiedergeburt des legendären VW-Bus als modernes Elektrofahrzeug.
Diess trieb den Umbau von Werken wie Zwickau zu reinen E-Auto-Fabriken voran und investierte Milliarden in Batteriezellfertigung und Ladeinfrastruktur. Sein Credo: Skalierung ist der Schlüssel zum Erfolg. Nur durch hohe Stückzahlen ließen sich die Kosten senken und Elektroautos für eine breite Käuferschicht erschwinglich machen.
CARIAD: Der Kampf um die Software
Diess erkannte früh, dass das Auto der Zukunft durch seine Software definiert wird. Autonomes Fahren, Konnektivität und digitale Dienste waren die neuen Schlachtfelder. Um hier nicht von Tech-Konzernen abgehängt zu werden, bündelte er die Software-Entwicklung des Konzerns in einer eigenen Einheit: CARIAD.
Das Ziel war ambitioniert: CARIAD sollte ein einheitliches Betriebssystem (VW.OS) und eine Automotive Cloud für alle Konzernmarken entwickeln. Doch das Projekt entpuppete sich als größte Herausforderung seiner Amtszeit. Die Komplexität, die unterschiedlichen Kulturen der Marken und der Mangel an agilen Entwicklungsprozessen führten zu massiven Verzögerungen und Qualitätsproblemen. Der verspätete Start wichtiger Modelle wie des elektrischen Porsche Macan und des Audi Q6 e-tron wurde direkt auf die Probleme bei CARIAD zurückgeführt.
Herausforderungen und Kontroversen
Die Amtszeit von Herbert Diess war von ständigen Kämpfen an mehreren Fronten geprägt. Sein konfrontativer Stil und sein hohes Tempo stießen im traditionell konsensorientierten Volkswagen-Konzern auf erheblichen Widerstand.
Konflikte mit dem Betriebsrat
Diess‘ ungeduldige Art und seine direkten Vergleiche mit Tesla führten zu wiederholten Auseinandersetzungen mit dem mächtigen Betriebsrat. Besonders seine Warnung, dass durch die langsamere Transformation im Vergleich zu Tesla bis zu 30.000 Arbeitsplätze gefährdet sein könnten, löste einen Sturm der Entrüstung aus. Er wurde als jemand wahrgenommen, der die Interessen der Belegschaft nicht ausreichend berücksichtigte. Diese Konflikte schwächten seine Position im Konzern nachhaltig.
Externe Schocks: Pandemie und Krieg
Zusätzlich zu den internen Widerständen musste Diess den Konzern durch unvorhersehbare externe Krisen steuern. Die COVID-19-Pandemie führte zu Werksschließungen und unterbrach die globalen Lieferketten. Der anschließende Chipmangel bremste die Produktion weltweit aus. Der Krieg in der Ukraine verschärfte die Lage weiter, da wichtige Zulieferer, etwa für Kabelbäume, ausfielen und die Energie- und Rohstoffpreise explodierten.
Öffentliche Äußerungen und Kritik
Auch Diess‘ Kommunikation sorgte mehrfach für Kontroversen. Ein unglücklicher Ausspruch („EBIT macht frei“), der an eine Nazi-Parole erinnerte, brachte ihm scharfe Kritik ein, für die er sich umgehend entschuldigte. Seine Forderung nach Friedensverhandlungen mit Russland kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs, um die deutsche Wirtschaft zu schützen, wurde ebenfalls kontrovers diskutiert.
Das Ende der Ära Diess und sein Vermächtnis
Im Juli 2022 gab der Aufsichtsrat von Volkswagen überraschend bekannt, dass Herbert Diess sein Amt als Vorstandsvorsitzender zum 1. September 2022 niederlegen wird. Die anhaltenden Probleme bei CARIAD und der schwindende Rückhalt bei den einflussreichen Familien Porsche und Piëch sowie beim Betriebsrat hatten seinen Stuhl zum Wackeln gebracht. Sein Nachfolger wurde Porsche-Chef Oliver Blume.
Trotz seines abrupten Abgangs hat Herbert Diess ein unbestreitbares Vermächtnis hinterlassen.
Was bleibt von der Ära Diess?
- Unumkehrbare Elektrifizierung: Diess hat den Volkswagen-Konzern mit aller Macht auf den Elektrokurs gezwungen. Ohne seine Entschlossenheit wäre der Wandel deutlich langsamer verlaufen. Er hat die Grundlagen für die MEB-Plattform und die ID.-Familie geschaffen.
- Bewusstsein für Software: Auch wenn die Umsetzung bei CARIAD holprig war, hat Diess das Bewusstsein für die zentrale Bedeutung von Software im Unternehmen verankert.
- Kultureller Wandel (unvollendet): Er versuchte, die Kultur von Volkswagen in Richtung mehr Agilität, Geschwindigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu verändern. Dieser Kulturwandel stieß auf Widerstand und bleibt eine unvollendete Aufgabe für seine Nachfolger.
Herbert Diess war der richtige Mann zur richtigen Zeit, um den schlafenden Riesen Volkswagen aufzuwecken. Er war der Disruptor, der notwendig war, um den Konzern aus der Schockstarre des Dieselskandals zu befreien. Sein konfrontativer Stil war jedoch letztlich nicht mit der komplexen Machtstruktur in Wolfsburg vereinbar.
Fazit
Herbert Diess‘ Zeit bei Volkswagen war eine Ära der Transformation, die von visionärer Kraft, aber auch von erheblichen Turbulenzen geprägt war. Er hat den größten Automobilkonzern der Welt gezwungen, sich seinen größten Ängsten zu stellen: dem Ende des Verbrennungsmotors und der Dominanz der Software. Obwohl seine Revolution unvollendet blieb und er über die operativen Hürden bei CARIAD stolperte, hat er die Weichen für die Zukunft von Volkswagen gestellt. Sein Vermächtnis ist der unumkehrbare Wandel hin zur Elektromobilität – ein Kurs, von dem es kein Zurück mehr gibt.
Häufig gestellte Fragen (FAQs)
1. Warum musste Herbert Diess Volkswagen verlassen?
Herbert Diess musste VW hauptsächlich wegen der anhaltenden Probleme und Verzögerungen bei der Software-Tochter CARIAD sowie wegen seines schwindenden Rückhalts im Aufsichtsrat verlassen. Sein konfrontativer Führungsstil und wiederholte Konflikte mit dem einflussreichen Betriebsrat trugen ebenfalls zu seinem Ausscheiden bei.
2. Was war Diess‘ größte Leistung bei VW?
Seine größte Leistung war die konsequente und unumkehrbare Ausrichtung des gesamten Volkswagen-Konzerns auf die Elektromobilität. Er initiierte die Entwicklung der MEB-Plattform und trieb den Start der ID.-Modellfamilie mit großer Entschlossenheit voran.
3. Was ist CARIAD und warum war es ein Problem?
CARIAD ist die konzerneigene Software-Einheit von Volkswagen, die gegründet wurde, um eine einheitliche Software-Architektur und ein Betriebssystem für alle Marken zu entwickeln. Das Projekt litt unter massiven Verzögerungen, Kompetenzstreitigkeiten und Qualitätsproblemen, was die Markteinführung wichtiger neuer Fahrzeugmodelle verzögerte.
4. Welche Rolle spielte Herbert Diess im Dieselskandal?
Herbert Diess trat erst kurz vor dem Bekanntwerden des Dieselskandals 2015 bei VW ein. Er war daher nicht in die Manipulationen verwickelt. Als Markenvorstand und später als Konzernchef war er jedoch maßgeblich für die Aufarbeitung der Krise und die strategische Neuausrichtung des Unternehmens verantwortlich.
5. Was macht Herbert Diess heute?
Nach seinem Abschied von Volkswagen übernahm Herbert Diess im Januar 2024 den Posten des Executive Chairman of the Board bei The Mobility House, einem Technologieunternehmen, das sich auf Lade- und Energielösungen für Elektrofahrzeuge spezialisiert hat, insbesondere im Bereich Vehicle-to-Grid (V2G).
