Die Europäische Zentralbank (EZB) hat kürzlich Bedenken über die übermäßigen Ausgaben einiger europäischer Länder geäußert und damit eine Debatte über die Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung in der EU ausgelöst.
Diese Diskussion ist vor allem im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament von Bedeutung, bei denen wirtschaftliche Fragen im Mittelpunkt des Interesses der Wähler stehen.
In diesem Interview erörtert Jolt Darwash, Senior Fellow beim European Economics Think Tank, den Stand der europäischen Staatsverschuldung, ihre potenziellen Risiken und die Auswirkungen auf die bevorstehenden Europawahlen.
Aktuelle Verschuldungssituation
Besorgnis der EZB
Im jüngsten Frühjahrsgutachten der EZB wird hervorgehoben, dass Länder wie Frankreich und Italien mehr ausgeben, als ratsam wäre: Frankreichs Staatsverschuldung liegt bei rund 110 % des BIP, Italiens bei etwa 140 %. Beide Länder wiesen im vergangenen Jahr Haushaltsdefizite von mehr als 5 % des BIP auf und übertrafen damit die von der EU festgelegten Grenzen von 3 % für Haushaltsdefizite und 60 % für die Staatsverschuldung.
Tragfähigkeit der fiskalischen Anpassung
Darwash räumt die Bedenken ein, hält die Situation aber für beherrschbar. Er weist darauf hin, dass diese Länder trotz der hohen Verschuldung die notwendigen fiskalischen Anpassungen vornehmen können, wie sie in den kürzlich überarbeiteten europäischen Fiskalregeln vorgesehen sind. Er rechnet nicht mit einer unmittelbar bevorstehenden Staatsschuldenkrise in der Eurozone.
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Wie sind wir hierher gekommen?
Pandemie und Energiekrise
Die COVID-19-Pandemie führte zu massiven öffentlichen Ausgaben, um Leben zu retten und die Wirtschaft zu stützen. Darauf folgte ein weiterer Ausgabenanstieg aufgrund der explodierenden Energiepreise, die zum Teil durch den Einmarsch Russlands in der Ukraine verursacht wurden. Diese Krisen führten zu ungewöhnlich hohen öffentlichen Ausgaben in vielen europäischen Ländern.
Aktuelle Haushaltsdefizite
Derzeit liegt das Haushaltsdefizit in 11 von 27 EU-Mitgliedstaaten über der 3 %-Grenze, darunter Spanien, Belgien, die Tschechische Republik und Italien. Gegen diese Länder läuft nun das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, in dem der Europäische Rat die notwendigen Haushaltsanpassungen für die kommenden Jahre festlegen wird.
Angehen übermäßiger Defizite
Neuer finanzpolitischer Rahmen
Der neue finanzpolitische Rahmen, der seit Ende April in Kraft ist, verpflichtet Länder mit hoher Staatsverschuldung zu jährlichen finanzpolitischen Anpassungen, um die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu gewährleisten.
Für Länder mit erheblichen Haushaltsdefiziten wird eine jährliche Anpassung von mindestens 0,5 % des BIP verlangt. Darwash zufolge könnte dies zwar umfangreichere Anpassungen erforderlich machen, dürfte aber keine größeren Probleme verursachen.
Rationalisierung der Ausgaben
Die Regierungen werden Prioritäten setzen und ihre Ausgaben rationalisieren müssen, wobei sie sich darauf konzentrieren sollten, verschwenderische Ausgaben zu eliminieren und die Haushalte an den Prioritäten der Wähler auszurichten, wie z. B. die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung.
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Politische Implikationen
Auswirkungen auf Wahlen
Wirtschaftliche Fragen, einschließlich der öffentlichen Ausgaben und der Verschuldung, sind für die europäischen Wähler von höchster Priorität. Bei den bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament werden 400 Millionen Menschen ihre Stimme abgeben, wobei Armut und soziale Ausgrenzung zu den wichtigsten Anliegen gehören.
Rechtsextreme Popularität
Die Rechtsextremen haben in ganz Europa an Popularität gewonnen, wobei Parteien wie die AfD in Deutschland, die Nationale Sammlungsbewegung in Frankreich und die Brüder in Italien an Zugkraft gewonnen haben.
Darwash weist jedoch darauf hin, dass selbst wenn diese Parteien Sitze gewinnen, ihre Führer angesichts der hohen Staatsverschuldung und der Haushaltsdefizite eine verantwortungsvolle Wirtschaftspolitik betreiben müssen.
Zinssätze und Staatsausgaben
Zinserhöhungen der EZB
Im Jahr 2022 begann die EZB mit der Anhebung der Zinssätze, um die Inflation zu bekämpfen, die mit 4,5 % ein 22-Jahreshoch erreichte. Da die Inflation inzwischen rückläufig ist, dürften etwaige Zinssenkungen der EZB bescheiden ausfallen.
Begrenzte Auswirkungen auf die Ausgaben
Eine geringfügige Senkung der Zinssätze, z. B. um 25 Basispunkte, wird nur begrenzte Auswirkungen auf die staatliche Ausgabenkapazität haben. Länder mit hoher Altverschuldung, wie Italien, werden weiterhin mit hohen Kreditkosten für Altschulden konfrontiert sein, so dass Zinssenkungen kaum unmittelbare Erleichterung bringen werden.
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Langfristiger Ausblick
Nachhaltige Verschuldungsniveaus
Darwash bleibt vorsichtig optimistisch und weist darauf hin, dass die im EU-Vertrag festgelegte Verschuldungsgrenze von 60 % des BIP im Vergleich zu anderen Industrieländern wie den USA und Japan, deren Schuldenstand wesentlich höher ist, konservativ ist. Er ist der Ansicht, dass die europäischen Länder höhere Verschuldungsniveaus ohne größere Risiken verkraften können.
Wachsamkeit erforderlich
Darwash ist zwar nicht übermäßig besorgt, betont aber, dass weiterhin Wachsamkeit und eine verantwortungsvolle Finanzpolitik erforderlich sind, um die langfristige wirtschaftliche Stabilität in der Eurozone zu gewährleisten.
Fazit
Die Situation der europäischen Staatsverschuldung ist zwar schwierig, aber nicht unüberwindbar. Verantwortungsvolle finanzpolitische Anpassungen und umsichtige Ausgaben werden für die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Stabilität entscheidend sein. Die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament werden ein entscheidender Moment für die Wähler sein, um zu beeinflussen, wie ihre Regierungen diese wirtschaftlichen Herausforderungen angehen.